Corona Bildung

„Lehrerinnen und Lehrer haben Unglaubliches geleistet!“

Wie haben sich die Lockdowns auf die Bildung unserer Kinder ausgewirkt? Wie haben die PädagogInnen sie erlebt? Und was lernen wir aus der Krise? Wir haben bei zwei BildungsexpertInnen nachgefragt.

Stellen Sie sich folgende Situation vor: Jedes Kind wird einzeln unterrichtet. Nicht in der Schule, sondern in einem eigenen Raum neben dem Kinderzimmer. Nicht von einem Lehrer oder einer Lehrerin, sondern von einer Maschine mit Bildschirm und Schlitz, in den man die Hausaufgaben wirft. Erinnert stark an Homeschooling, oder? Tatsächlich handelt es sich dabei aber um die Vision des Science-Fiction-Autors Isaac Asimov, der 1954 in seiner Geschichte „Die Schule“ den Unterricht der Zukunft beschrieb. Sein Idealbild ist unsere Notlösung und gar nicht so ideal. Aber wie schlimm sind die Auswirkungen der Pandemie auf unser Bildungssystem wirklich? Und können wir etwas aus der Krise lernen? Zwei der BildungsexpertInnen der Industriellenvereinigung (IV), Tina Dworschak und Viktor Fleischer, liefern uns Antworten.

Corona und Bildung
Tina Dworschak und Viktor Fleischer kennen die auftretenden Probleme …Foto: Industriellenvereinigung
Corona und Bildung
… aber auch die möglichen Chancen der jetzigen Krise für unser Schulsystem.Foto: Industriellenvereinigung

Österreich wurde, wie viele Länder, vom Homeschooling überrumpelt und war nicht wirklich auf den Umstieg auf digitales Lernen vorbereitet. Knapp ein Drittel der Jugendlichen hatte an ihren Schulen zu langsames Internet und zu wenige digitale Lehrmittel. Brennpunktschulen waren vielfach schlechter ausgerüstet. Das geht aus der aktuellen PISA-Sonderauswertung hervor. 

Wie will man diesen Rückstand bei der Digitalisierung an den Schulen aufholen? Und wie steht Österreich im internationalen Vergleich da?

Viktor Fleischer: Das ist schwer zu sagen, weil natürlich jeder Erster sein möchte. Doch meine Einschätzung ist, dass wir, was das angeht, sicher spät dran waren. Vor allem für ein Land, das wirtschaftlich nicht schlecht aufgestellt ist. Jetzt sind aber einige Prozesse angestoßen und es wurde Geld in die Hand genommen. Beim aktuellen Schulentwicklungsprogramm, das im Mai vorgestellt wurde, spielt Digitalisierung natürlich eine viel größere Rolle als in den vergangenen Runden. Im letzten Budget wurde etwa beschlossen, 235 Millionen Euro vorwiegend für die Beschaffung digitaler Endgeräte für SchülerInnen zur Verfügung zu stellen. Das sind 2,4 % des Bildungsbudgets! Außerdem sollen in den nächsten zehn Jahren rund 2,4 Milliarden Euro für den Neubau, die Erweiterung und die Sanierung von AHS und berufsbildenden mittleren und höheren Schulen aufgewendet werden. Da passiert jetzt etwas, wenn auch reichlich spät. Und: Damit allein ist es nicht getan. Es besteht die Gefahr, dass man zwar die Geräte beschafft, aber dass das ganze restliche System nachhinkt.

Gibt es Länder, die man sich da zum Vorbild nehmen könnte?

Viktor Fleischer: Ja, es sind oft die gleichen Länder, die genannt werden, wie zum Beispiel Finnland, Schweden oder auch Estland. Die sind in jeder Hinsicht vorne dabei, weil sie es geschafft haben, das Ganze systemisch aufzugreifen und nicht nur Geld hineinzustecken. Finnland hat seit vielen Jahren eine Plattform, über die der gesamte digitale Unterricht abgewickelt wird. Das wird bei uns jetzt auch versucht, aber es hängt von verschiedenen Faktoren ab, inwieweit das funktioniert.

Ein weiteres Problem ist, dass während der Pandemie nicht alle SchülerInnen die gleichen Chancen hatten. Die aktuelle LehrerInnenbefragung des IHS (Institut für höhere Studien) hat gezeigt, dass 12 % der Kinder in dieser Zeit gar nicht erreichbar waren. Von den Kindern, die etwa Sprachprobleme haben oder aus einem sozial schwachen Elternhaus kommen, waren es sogar 37 %. Wie kann man dieses Ungleichgewicht abfedern? Indem man diese Kinder mit Laptops ausstattet?

Viktor Fleischer: Man sagt, die Krise war eine Art Brennglas für Probleme, die schon vorher bestanden haben. Das gilt auch für die Ungleichheiten im Bildungssystem, die es schon lange vor Corona gab, die jetzt aber zum Teil noch stärker hervorgetreten sind. Natürlich muss man jetzt alle Kräfte mobilisieren, um Rückstände aufzuholen. Es gibt digitale Lerntools, mit denen man SchülerInnen gezielt fördern kann. Hier sehe ich vor allem bei sprachlichen Schwächen oder einzelnen Fächern wie Mathematik, wo man sich bei der Vermittlung besonders schwertut, großes Potenzial. Aber Probleme, die strukturell mit dem sozialen Umfeld in Verbindung stehen, wird man mit digitalen Mitteln allein nicht lösen können. Kinder, die die Freude am Lernen noch nie ausreichend erlebt haben,werden sich auch durch die modernste Ausrüstung nicht motivieren lassen, sondern brauchen eine Vielzahl begleitender Maßnahmen.

Distance Learning war im März 2019 de facto für fast alle Beteiligten ein absoluter Coldstart.

Tina Dworschak, Bildungsexpertin der Industriellenvereinigung

Tina Dworschak: Durch Corona sind Probleme in der Wahrnehmung angekommen, die es schon vorher gab, und Prozesse beschleunigt worden, die bereits länger in Planung waren. So auch ein Finanzierungskonzept, bei dem es vereinfacht gesagt darum geht, dass die Schulen mit den größten Herausforderungen mehr Geld bekommen sollen. Sie brauchen mehr Geld für Infrastruktur. Sie brauchen aber auch mehr Geld für Räumlichkeiten oder architektonische Lösungen, wo Kinder Lernumgebungen finden, die sie daheim nicht zur Verfügung haben. Da geht’s aber auch um mehr Lehrpersonal und um Unterstützungsleistungen.

Apropos Lehrpersonal: Besonders hart war die Situation für LehrerInnen. 71 % der PädagogInnen gaben laut IHS an, durch Homeschooling einen deutlich erhöhten Stundenaufwand gehabt zu haben. Denken Sie, dass die Krise ihre Art zu unterrichten nachhaltig verändert hat? 

Tina Dworschak: Die LehrerInnen haben während Corona Unglaubliches geleistet. Man muss sich einmal vor Augen führen, dass dieses Distance Learning im März 2019 de facto für fast alle Beteiligten ein absoluter Coldstart war. Besonders, wenn man bedenkt, in welchem System PädagogInnen agieren. Mit Lockdownvorgaben, starren Strukturen und unklaren Verantwortlichkeiten. Und selbst in diesem starren System wurde die Art, wie Unterricht stattfinden soll, einfach komplett anders gedacht, weil es anders nicht ging. Daraus haben sehr viele sicher auch entsprechende Schlüsse gezogen. Zum Beispiel, dass sie sich als LernbegleiterInnen verstehen, ihren Lehrstoff auf das Wesentliche fokussieren, für Rückfragen zur Verfügung stehen und sich neben dem tatsächlichen Wissensstand auch den Lernprozess anschauen. Das fließt natürlich alles in die Noten ein. Da sind sehr viele Dinge passiert, und ich glaube nicht, dass PädagogInnen, denen das jetzt gut gelungen ist oder die darin ein Potenzial sehen, wieder zu dem starren Silodenken zurückkehren werden.

Corona und Bildung
Schülerinnen und Schüler der Oberstufe steckten seit November im Distance Learning fest. Viele davon haben es jedenfalls genossen, nicht dem sozialen Druck der Schule ausgesetzt zu sein.Foto: Adobe Stock | Halfpoint

Auch wenn PädagogInnen, SchülerInnen und Eltern während der Lockdowns ihr Bestes gegeben haben, rechnet man mit einem Leistungsabfall. Und das nicht nur bei sogenannten RisikoschülerInnen, sondern auch bei Kindern ohne spezielle Merkmale. Hier geht man laut einer LehrerInnenbefragung der Universität Wien von einem 16%igen Leistungsabfall aus. Bedeutet das, dass alle SchülerInnen wegen Corona ein Leistungsdefizit haben?

Tina Dworschak: Zum jetzigen Zeitpunkt fehlen uns schlichtweg noch die Evidenzen. Was man aber laienhaft festhalten kann, ist, dass es im ersten Lockdown die RisikoschülerInnen waren, die mangels Endgeräten nicht erreicht werden konnten und die dadurch noch weiter abgehängt wurden. Jetzt ist es so, dass die gesamten SchülerInnenkohorten nicht so einen Unterricht bekommen konnten, wie es bisher üblich war.

Manche SchülerInnen haben es sogar genossen, nicht dem sozialen Druck der Schule ausgesetzt zu sein.

Viktor Fleischer, Bildungsexperte der Industriellenvereinigung

Die Oberstufen waren ja von November bis jetzt zu Hause, das sind schon irre Dimensionen. Andererseits sollten wir nicht nur von reinen Bildungsdefiziten reden. Denn worum geht es uns eigentlich? Zählt nur, ob die SchülerInnen alle Punkte im Lehrplan abhaken können oder haben sie in der Zeit auch andere Dinge gelernt, die ihnen in Zukunft helfen werden? Stichwort: selbstorganisiertes Lernen, Resilienz oder auch nur die Schule als wichtigen Ort im eigenen Leben zu erkennen. Wenn man Bildung als Ganzes sieht, gehört auch das Leben dazu – wie ich mit Krisen oder meinen eigenen Gefühlen umgehe oder auch, wie ich resilient werde.

Viktor Fleischer: Manche SchülerInnen haben es sogar genossen, nicht dem sozialen Druck der Schule ausgesetzt zu sein. Es hat ganz unterschiedliche Auswirkungen gehabt.

Tina Dworschak: Mein Wunsch wäre, dass man sich gegen Ende dieser Pandemiephase die Zeit und die Muse nimmt, sich strukturiert mit den Learnings auseinanderzusetzen. Dabei sollte man sich aber nicht nur auf das konzentrieren, was nicht funktioniert hat, sondern auch auf das, was wir mitnehmen und behalten wollen.

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