Beim Namen Erasmus denken die meisten an Studierende, die einen Teil ihrer Ausbildung an einer internationalen Uni absolvieren. Dass mittlerweile auch Lehrlinge dank Erasmus+ Erfahrung im Ausland Sammlung können, ist weniger bekannt. Maria Wenger, 10.000ster Erasmus+ Lehrling, rät anderen: „Traut euch!“
Sie gilt als die Mutter von Erasmus, obwohl sie mit ziemlicher Sicherheit keinen Sohn hat, der diesen Namen trägt. Die Rede ist von Sofia Corradi, die 1958, nachdem sie dank eines Fulbright-Stipendiums ein Jahr an der Columbia University studiert hatte, an die römische Universität La Sapienza zurückkehrte. Die Erfahrungen, die sie in New York gesammelt hatte, sollten ihr Leben verändern. Die Reaktion ihrer italienischen Universität würde jedoch Millionen von Menschen nachhaltig prägen. Denn das Erasmus-Programm entstand aus der Enttäuschung heraus, dass man Sofia Corradi die Zeit im Ausland nicht anrechnen wollte, sondern stattdessen als Urlaub abtat. Zwar holte die junge Italienerin die Prüfungen nach und verlor dadurch ein Jahr. Den Traum, es auch anderen zu ermöglichen, im Ausland zu studieren, gab sie dennoch nicht auf.
1987, fast 20 Jahre später, ging das berühmte Erasmus-Austauschprogramm schließlich an den Start. Der Name ist ein Akronym für „European Region Action Scheme for the Mobility of University Students“. Und gleichzeitig auch der eines niederländischen Philosophen, der – passenderweise – im 15. und 16. Jahrhundert Europa bereiste, um seinen Wissensdurst zu stillen.
Aus Erasmus wird Erasmus+
Erasmus und andere EU-Programme wurden 2014 zu Erasmus+ für allgemeine und berufliche Bildung, Jugend und Sport zusammengeschlossen. Teilnehmen können nicht mehr nur Studierende, sondern auch Lehrlinge, Schüler:innen, Pädagog:innen, Lehr- und Fachkräfte. Bis Ende 2027 sollen pro Jahr 2.000 Erasmus+ Lehrlinge im Ausland lernen und arbeiten können. Unter bestimmten Voraussetzungen sind geförderte Aufenthalte im Berufsbildungsbereich auch weltweit möglich.
Neues Programm, mehr Möglichkeiten
Seit 1995 ermöglichen die EU-Programme Erasmus+ und seine Vorgänger auch Auslandsaufenthalte für Lehrlinge. Die Praktika dauern zwischen zehn Tagen und einem Jahr und sind eine Bereicherung für die Persönlichkeit und die Karriere der Auszubildenden. Doch auch Unternehmen profitieren von den Erfahrungen, die ihre Lehrlinge im Ausland sammeln, sagt Wolfgang Hesoun, ehemaliger CEO der Siemens AG Österreich: „Siemens ist ein weltweit tätiges Unternehmen und dementsprechend arbeiten wir in international zusammengesetzten Teams. Da spielen Soft Skills wie interkulturelle Kompetenz und Teamfähigkeit eine große Rolle.“
Trotz der Pandemie konnten 2021 und 2022 insgesamt rund 850 neue Lehrlingspraktika vergeben werden. Und in Zukunft sollen es noch mehr werden. Die Teilnehmer:innen kommen aus den verschiedensten Lehrberufen, erklärt Jakob Calice, OeAD (Österreichs Agentur für Bildung und Internationalisierung)-Geschäftsführer: „Am häufigsten aus dem Einzelhandel, dem Tourismus, aber auch aus unterschiedlichen Handwerksberufen und aus der Applikationsentwicklung.“
Als 10.000ster Erasmus+ Lehrling nach Madrid
So wie die Salzburgerin Maria Wenger, Auszubildende bei Siemens Österreich in Linz und Trainee der Dualen Akademie. „Ich interessiere mich für die verschiedenen Kulturen und wollte mir die Chance, in einem anderen Land den Arbeitsalltag meiner Kolleginnen und Kollegen hautnah mitzuerleben, nicht entgehen lassen“, sagt die 23-Jährige. Die Applikationsentwicklerin verbrachte heuer als 10.000ster Erasmus+ Lehrling zwei Wochen bei Siemens S.A. in Madrid: „Dort habe ich bei der Planung einer neuen Applikation geholfen und etwas über Low-Coding gelernt. Low-Coding ist, wenn man schon vorgefertigte Blöcke zusammensetzt und diese dann auf einfachem Weg eine Applikation erstellen.“ Besonders gefallen habe es ihr, die Arbeitsweisen und die Kultur kennenzulernen. „Der größte Erfahrungswert bei dem Auslandaufenthalt für mich persönlich war aber, mich in einer komplett fremden Umgebung zurechtzufinden.“
Keine Angst
Maria Wenger hatte Glück, dass Auslandsaufenthalte bei Siemens bewusst gefördert werden und das Unternehmen sie in allem unterstützte, auch bei der Organisation. Selbstverständlich ist das nicht, denn immer noch nehmen weit weniger Lehrlinge als Studierende dieses Angebot in Anspruch. „Wir sollten schon in der Schulzeit über die Möglichkeiten eines Auslandsaufenthalts während der Lehrzeit informiert werden. Und auch Unternehmen müssten diese Angebote gezielt kommunizieren“, sagt Maria Wenger. Sie selbst ist mittlerweile wieder in Linz und im Alltag angekommen. Und rät anderen Lehrlingen: „Traut euch! Auch wenn man noch nie zuvor allein im Ausland war: Keine Angst! Die Menschen sind sehr aufgeschlossen und rücksichtsvoll und für einen selbst ist es eine sehr wertvolle Erfahrung und erweitert den Horizont.“
Lehre statt Studium
Eigentlich wollte Maria Wenger, wie viele andere auch, keine Lehre machen, sondern studieren. Vor allem Informationstechnik habe sie schon immer interessiert, sagt sie. Deshalb habe sie auch auf der HAK den Ausbildungszweig IT gewählt. Als sie sich gezielt damit beschäftigte, wie ihr Leben nach der Schulzeit aussehen sollte, wurde sie auf die speziell für Maturant:innen konzipierte Ausbildung der Dualen Akademie aufmerksam. „Die Aufgaben haben perfekt auf mein Profil gepasst: Entwicklung von Applikationen sowie Planung von neuen Komponenten der Applikationen.“ Die Entscheidung nach der Matura zu Siemens zu gehen, wo die Duale Akademie ebenfalls angeboten wird, sei ihr nicht schwergefallen. „Wir haben einen sehr flexiblen Arbeitsalltag und können Arbeitszeiten und -orte in einem vereinbarten Rahmen frei wählen, haben die Möglichkeit, global und mit Menschen aus den verschiedensten Kulturen zusammenzuarbeiten, und nicht zuletzt garantiert die IT-Branche eine gewisse Jobstabilität.“