Österreichs Industrie ist in ihren Produktionsabläufen auf russisches Erdgas angewiesen. Ein Stopp der Gaslieferungen würde Österreich energiepolitisch wie ökonomisch in einen Ausnahmezustand stürzen. Aber welche Alternativen gibt es?
Auf EU-Ebene wird seit Wochen intensiv nach Alternativen zu Erdgas aus Russland gesucht. Immerhin kommen allein 150 der 400 Milliarden Kubikmeter Gas, die pro Jahr in der EU verbraucht werden, aus Russland.
Österreich ist diesbezüglich besonders exponiert. Denn im Energiemix spielen die letztgenannten Energiequellen eine maßgebliche Rolle. 34 Prozent des österreichischen Endverbrauchs stammen aus Öl, 23 Prozent aus Erdgas. 17 Prozent decken biogene Quellen, 11 Prozent Wasserkraft und sieben Prozent Kohle. Der Eigenversorgungsgrad Österreichs ist – abgesehen von erneuerbaren Quellen – verschwindend gering: Bei Erdöl und Erdgas liegt er im mittleren bis niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Langfristige Lieferverträge für Erdgas
In Normalzeiten macht(e) das dennoch wenig Sorgen. In Krisen- und Kriegszeiten aber wächst sich die überproportionale Abhängigkeit und Verletzlichkeit der Versorgungskette zu einer ernsthaften Bedrohung aus. Denn gerade bei Erdgas gibt es bei Lieferanten keine Diversifikation. Alles fokussiert sich auf Russland.
So stammen vom österreichischen Bedarf von 8,4 Milliarden Kubikmeter Erdgas 7,6 Milliarden aus dem Import. Davon sind 5,4 Milliarden über Langfristverträge mit der russischen Gazprom geregelt. Abgesehen von knapp einer Milliarde Kubikmeter Eigenproduktion sichern den Rest Kurzfristlieferverträge – auch da mehrheitlich mit der Gazprom.
„Lieferengpässe würden enorme Schäden bringen“
Allein in Kärnten werden derzeit pro Jahr rund 1,5 Terawattstunden Gas verbraucht. Drei Viertel davon gehen an die Industrie, die Erdgas zumeist für Hochtemperaturprozesse einsetzt. „Dieses Gas kommt zum größten Teil aus Russland und ist derzeit aufgrund seiner Energiedichte nicht ersetzbar“, warnt IV-Kärnten-Präsident Timo Springer. „Die Versorgung der Grundstoffindustrie in den Sparten Papier, Lebens- und Futtermittel, Stahl, Chemie, Pharmazie und Düngerproduktion samt den Lieferketten ist unerlässlich“, heißt es auch aus Oberösterreich, mit zwei Milliarden Kubikmeter Jahresverbrauch Österreichs industrieintensivstes Bundesland. „Fakt ist, dass Österreich zurzeit noch abhängig ist von russischem Gas. Ein sofortiger Importstopp würde unserer Wirtschaft, die sowieso schon massiv unter den steigenden Preisen, Lieferengpässen und der Corona-Pandemie leidet, noch zusätzlich enormen Schaden zufügen“, mahnt IV-Vorarlberg-Präsident Martin Ohneberg.
WIE DAS ERDGAS NACH ÖSTERREICH KOMMT
- Die wichtigste und größte heimische Import- und Übernahmestation für Erdgas liegt in der niederösterreichischen Gemeinde Baumgarten im Marchfeld. Dort wird ein Großteil des Gases aus Russland, Norwegen und anderen Ländern übernommen, gemessen, geprüft und weiter verteilt.
- Das geschieht über unterirdische Pipelines mit einem Druck von 70 Bar. Damit das Gas nicht zu viel an Druck und somit an Geschwindigkeit von etwa 28 km/h verliert, gibt es in Abständen von 70 bis 200 km Verdichterstationen.
- Mit dieser Geschwindigkeit ist das Gas aus Russland etwa sechs Tage unterwegs, bis es an der österreichischen Staatsgrenze ankommt.
- Die ersten Gas-Lieferverträge mit Russland wurden schon im Jahre 1968 abgeschlossen.
Die Perspektive eines Versiegens der Erdgaslieferungen aus Russland im Zuge einer möglichen Ausweitung der Sanktionen sorgt daher für massive Verunsicherung in der österreichischen Wirtschaft. Vor allem die energieintensive Industrie befürchtet einen Kollaps. Produktionseinschränkungen bis hin zu Betriebsschließungen, Massenarbeitslosigkeit und eine Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes samt galoppierender Inflation wären die Folgen.
„Dann kommt alles zum Erliegen“
Aber welche Alternativen gibt es? Nach dem EU-weiten Beschluss, die Wirtschaftssanktionen zu verschärfen und ab August keine Kohle mehr aus Russland zu importieren, wird die Diskussion um ein mögliches Gas-Embargo gegen Russland jedenfalls immer heftiger. Und die Warnungen immer lauter. „Wir haben bisher alle Aktionen mitgetragen, auch der Boykott russischer Kohle lässt sich noch verkraften. Aber eine Eskalation beim Gas hätte verheerende Folgen. Dann kommt alles zum Erliegen“, sagt Georg Knill, Präsident der Industriellenvereinigung. Sollten Gaslieferungen tatsächlich gestoppt werden, käme man in Österreich aktuell fünf bis sechs Wochen mit den Speicherbeständen aus.
Um für einen derartigen Engpass gerüstet zu sein, gibt es eigene Notfallpläne. Zu beachten ist dabei, wann es zu entsprechenden Maßnahmen kommen würde. Denn im Fall einer Eskalation und weiteren Destabilisierung der Versorgungslage macht es für die Planungen von Energielenkungsmaßnahmen durch den Staat einen Riesenunterschied, ob sie in einem Wintermonat oder in der Übergangszeit oder in einem Sommermonat exekutiert werden. Die Verbraucherstruktur unterscheidet sich nämlich fundamental.
Gasverbrauch im Winter verdreifacht
Grundsätzlich zeigen die Jahresverbrauchskurven, dass der Gasverbrauch in einem kalten Wintermonat rund dreimal so hoch ist wie in einem Sommermonat. Unterschiede gibt es auch in der Verbraucherstruktur. So teilt sich im Winter der tägliche Gasverbrauch in Österreich zu je einem Drittel auf Industrie, Haushalte und Kraftwerke auf. Während der industrielle Verbrauch im Jahreslauf stabil ist, gibt es bei Haushalten (eklatanter Mehrverbrauch in der Heizsaison) und folglich auch bei Gas- und Fernwärmekraftwerken große Schwankungen.
Übers Jahr gerechnet verbraucht die Industrie 50 Prozent des österreichischen Gasbedarfs. 30 Prozent laufen in die Verstromung (weil es im Winter nicht genug Strom aus erneuerbaren Quellen gibt) und 20 Prozent in die Haushalte. Die Abhängigkeit der Industrie wird damit deutlich und ist in keinem anderen Land der EU größer. In Deutschland beispielsweise fließen 50 Prozent in die Haushalte (jeder zweite Haushalt hängt am Gasnetz) und nur 30 Prozent in die Industrie und 20 Prozent in die Verstromung.
Alternative LNG: Infrastruktur fehlt
Im Nachbarland, wo insgesamt 55 Prozent der Gasimporte aus Russland kommen, setzt Wirtschaftsminister Robert Habeck daher in Sachen Versorgungssicherheit auf eine mehrgleisige Alternativstrategie. Zum einen sollen 1,5 Milliarden Euro zum Einkauf von Flüssiggas (LNG) bereitgestellt werden, zum anderen will man auch Kohlekraftwerke in Bereitschaft halten beziehungsweise eine Kohlereserve anlegen. Österreich, wo 80 Prozent des Erdgases aus Russland kommen, kann dagegen nur bedingt auf LNG als Ersatz zurückgreifen. Für eine ausreichende Menge LNG bräuchte allein Österreich rund 80 Tankschiffe. Leitungskapazitäten aus dem benachbarten Ausland sind beispielsweise im Vergleich zu Westeuropa begrenzt.
Überhaupt gibt es in der EU erheblich unterschiedliche Betroffenheiten. Aus historischen, technischen und geografischen Gründen haben manche Länder eine erheblich geringere Abhängigkeit von russischem Gas. Diese Staaten tun sich daher auch leichter, eine Ausweitung der Sanktionen samt Lieferstopp von russischem Gas zu fordern.
Notfallplan: Beschlagnahmung möglich
Die RAG ist das größte Gasspeicher- und somit Energiespeicherunternehmen Österreichs und deckt den österreichischen Bedarf zu 75 Prozent ab. 80 Prozent des gesamten Speichervolumens von 6,3 Milliarden Kubikmeter Gas sind aber für den Export bestimmt, gilt die RAG doch als viertgrößter Speicherbetreiber in der EU. Als erste Reaktion auf mögliche Lieferstopps wurde in Österreich die Bevorratung in Form von 12,6 Terrawattstunden als strategischer Speicher beschlossen. EU-weit gilt als Ziel, dass jedes Mitgliedsland 25 Prozent seines Jahresverbrauchs als Speichervolumen vorrätig hat.
Heimische Unternehmen mit hohem Gasverbrauch hat die Regierung indes aufgefordert, auch selbst Vorräte anzulegen. Brisant: Bei Stufe drei des Notfallplans könnte der Staat derartige Gasreserven praktisch unentgeltlich beschlagnahmen. Industrievertreter fordern daher eine gesetzliche Regelung, in der für so einen Fall zumindest Entschädigungen vorgesehen sind.
GUT ZU WISSEN
- Kommt es zu einem Lieferstopp bei Erdgas, braucht es für lebenswichtige Bereiche eine Sicherstellung der Energieversorgung. Das bedeutet einen Verzicht, wo es möglich ist – auch wenn es erhebliche wirtschaftliche Schäden zur Folge hätte.
- Seit 2009, als es erstmals zu einer Unterbrechung der Energielieferungen aus Russland gekommen ist, gibt es dafür einen dreistufigen Notfallplan inklusive sogenannter Energielenkungsmaßnahmen durch den Staat.
- Vorwarnstufe: Es gibt konkrete und ernstzunehmende Hinweise auf eine potenzielle erhebliche Verschlechterung der Gasversorgungslage, aber noch keine Lenkungsmaßnahmen durch den Staat.
- Alarmstufe: Es gibt eine Störung der Gasversorgung oder eine außergewöhnlich hohe Nachfrage, die zu einer erheblichen Verschlechterung der Gasversorgungslage führt. Aber auch in dieser Stufe sind noch keine Energielenkungsmaßnahmen notwendig.
- Notfallstufe: Der Markt kann die Gasnachfrage nicht mehr vollständig decken. Nichtmarktbasierte Lenkungsmaßnahmen werden erforderlich.