Industriekletterer

Industriekletterer: „Ein Kick ist immer dabei“

Was tun, wenn ein Rotorblatt eines Windrads defekt wird? Oder die Fenster eines Hochhauses geputzt werden müssen? Es ist das Einsatzgebiet von Industriekletterern wie Martin Reschreiter.

Der Anruf erreicht Martin Reschreiter, als er 30 Meter über dem Erdboden an einer Hausfassade baumelt. Ein ungünstiger Moment. „Ich bin gerade beim Fensterputzen“, bittet er um eine spätere Kontaktaufnahme. Es ist zweifellos einer der exponierteren Arbeitsplätze: Das Hochhaus, an dem Reschreiter an diesem Vormittag hängt, ist gut 50 Meter hoch. Er hatte von oben begonnen und sich, die Glasflächen waschend, wischend und abziehend, hinuntergehantelt. Ein Fenster nach dem anderen, ein Stockwerk nach dem anderen. Muss man mögen. Martin Reschreiter mag es. Er ist Industriekletterer.

„Dort, wo andere Angst bekommen, beginnen wir mit Freude unsere Arbeit“ – der Firmenslogan trifft’s. Das Bodenlose, Freischwebende, Ausgesetzte: Es sind Situationen, in denen Schwindelfreiheit, Mut und klettertechnisches Know-how zur Grundausstattung gehören müssen. Dazu braucht es handwerkliches Geschick und – wir sind ja in Österreich – jede Menge bürokratischer Genehmigungen.

Drohnen als Helfer für Industriekletterer

So mache die Seiltechnik nur 20 Prozent der Aufgabe aus. Der Rest ist Wissen und handwerkliche Skills, sagt Reschreiter. Entsprechend penibel ist die Vorbereitung am Boden. Vor jedem Einsatz gibt es eine Einschulung von den Spezialisten, teilweise auch Videos, auf denen zu sehen ist, welcher Schaden oder welche Arbeit die Kletterer in luftiger Höhe erwartet. Das Filmmaterial stammt von Drohnen, die beispielsweise bei Rotorblättern von Windkraftanlagen zur Erstkontrolle nach oben geschickt werden. „Aber reparieren müssen es dann schon wir“, sagt Reschreiter. 150 Meter über der Erde. Freischwebend.

Industriekletterer
Nichts für Menschen mit Höhenangst: „Wir sind doppelt abgesichert“, beruhigt Industriekletterer Martin Reschreiter. Foto: industriekletterer.com

Um den Job erledigen zu können, ist aber nicht nur Können und „viel Hausverstand“ (Reschreiter) notwendig, es braucht auch Genehmigungen in Form des jeweils entsprechenden Gewerbescheins. Martin Reschreiter hat fünf davon – aber ein eingeschränktes Verständnis für die dahinterliegende Befugnisbegeisterung in Österreich. Will man zum Beispiel ein Spechtloch hoch oben in einer Baumkrone verschließen, braucht es das Meistergewerbe für ein Bauunternehmen, weil es sich um Verputzarbeiten handelt. „In Österreich kann jede Hausfrau Industriekletterin werden, aber nicht jeder Industriekletterer darf Fenster putzen“, vergleicht Reschreiter – und meint das nicht abfällig gegenüber potenziellen weiblichen Kolleginnen. Davon gibt es derzeit aber ohnehin (noch) keine.

Jedes Werkzeug hängt doppelt am Gurt

Auch im vierköpfigen „industriekletterer.com“-Team rund um Reschreiter sind an den Standorten in Salzburg und Tirol nur Männer. Das hat auch mit dem Gewicht der Ausrüstung zu tun, die immer mit dabei ist. An Bauch- und Brustgurten hängen bis zu zehn Kilo Eigenmaterial plus das Werkzeug, das für die jeweilige Arbeit notwendig ist. Letzteres ab einer gewissen Höhe in zweifacher Ausfertigung. Nicht für den Fall, dass ein Schraubenzieher einmal runterfällt (jedes Teil ist extra angehängt), aber falls er defekt ist. 

Das würde einen zeitaufwendigen Ab- und erneuten Aufstieg notwendig machen. Das gilt auch für einen WC-Gang, „deshalb muss man sich das gut einteilen“, lacht Reschreiter. Damit wäre der Industriekletterei nämlich ein wesentliches Asset genommen: die Geschwindigkeit. Denn bis für dieselbe Arbeit ein Gerüst aufgebaut oder ein Kran herangeschafft wird, „sind wir schon fertig“, sagt Reschreiter. Der 44-Jährige hat über Sportaktivitäten wie Felsklettern, Paragleiten und Raften zum Industrieklettern gefunden.

Weihnachtsbeleuchtung am Kirchturm

Das Einsatzgebiet dieser Branche ist weit. Und wird größer. „Weil in immer mehr Hochhäusern Fenster verbaut werden, die aufgrund der Klimaanlagen in den Räumen nicht mehr geöffnet werden können“, bringt Reschreiter ein Beispiel für die steigende Nachfrage nach kraxelfitten Fensterputzern.

Industriekletterer
Für die Arbeit als Industriekletterer braucht es „20 Prozent Seiltechnik, 80 Prozent handwerkliches Geschick und Hausverstand“, sagt Reschreiter.Foto: industriekletterer.com

Dazu kommen Dachrinnenreinigungen, Baumschlägerungen, Montagearbeiten etwa von Gittern zur Taubenabwehr oder von Weihnachtsbeleuchtungen auf Dächern und Kirchtürmen, Wartungs- und Montagearbeiten bei Liftstützen oder Windrädern, aber auch Personensicherungen, wenn es sich ein Sachverständiger selbst zumutet und zutraut, bei einer Inspektion für kurze Zeit den Boden unter den Füßen zu verlieren.

Angst? „Es gibt schon ein Durchschnaufen“

Aber wie ist das jetzt wirklich mit der Angst? Wenn er bei einer neuen Baustelle das erste Mal raussteige in die Gefahrenzone, „dann gibt es schon ein Durchschnaufen“, gibt Martin Reschreiter zu. „Ein bisserl ein Kick ist immer dabei.“ Aber das Vertrauen in die Ausrüstung dämpfe das mulmige Gefühl schnell ab. „Wir sind doppelt abgesichert, und alles ist um zwei Tonnen überdimensioniert“, verweist er auf große Sicherheitsreserven. Fallen sollte man trotzdem nicht, weil im Unterschied zum Felsklettern keine dynamischen Seile zum Einsatz kommen, sondern statische, die einen Sturz weniger geschmeidig – eigentlich gar nicht – dämpfen. Dafür garantieren sie bei der Arbeit den notwendigen fixen Halt und verhindern ein Auf-ab-Pendeln.

Ob er noch von einem Einsatz auf einem echten Hochhausriesen träumt? „Nein, weil in diesen Höhen ist man dem Wind voll ausgesetzt“, sagt Reschreiter. „Da wird man dann schnell zum Spielball der Elemente.“ Und ob es 150 Meter (wie bei Windrädern) oder 500 Meter oder mehr bis zum Boden sind (wie an Felswänden bei Seilbahnstationen) oder ob es 800 Meter wie am höchsten Hochhaus der Welt wären, sei dann nicht mehr so ausschlaggebend. „Die Lkw unten wirken schon ab einer Höhe von hundert Metern sehr klein.“

Credits Artikelbild: adobestock | Tarnero

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