Gleiche Chancen für alle: So funktioniert Inklusion im Beruf

Barrieren endlich überwinden – aber wie? Was die Inklusion von Menschen mit Behinderung fördern könnte und welche sprachlichen Fehler wir machen, haben wir gemeinsam mit einem Betroffenen erforscht.

Die Geschichte kann man dramatisch erzählen. Doch das würde nicht zur Lebenseinstellung von Patrick Mayrhofer passen. Deshalb erzählen wir sie schlicht und nüchtern: Im Jahr 2003 begann der Oberösterreicher mit einer Elektrotechnikausbildung in Linz. Fünf Jahre später erlitt er auf der Baustelle einen Starkstromunfall. Beide Arme sowie der rechte Oberschenkel wurden dabei schwer geschädigt. Seine ursprüngliche Arbeitsstelle in Linz nahm ihn wieder auf und man fand einen neuen, passenden Job für ihn. 2010 entschloss er sich dann, seine linke, zwar noch vorhandene, aber nicht mehr funktionstüchtige Hand amputieren zu lassen und durch eine Prothese zu ersetzen. Heute ist der 34-Jährige für Ottobock, den Weltmarktführer im Bereich Prothetik, tätig, zu dem er ursprünglich als Testpatient kam.

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Patrick Mayrhofer verkörpert ein Wunder der modernen Medizin: dem Mühlviertler wurde die weltweit erste bionische Prothese angepasst – damals eine medizinische Sensation.Foto: Patrick Mayrhofer

Als Coach der Abteilung „Prothetik obere Extremität“ trainiert er heute erfolgreich OrthopädietechnikerInnen in der richtigen Anwendung von Handprothesen. Mit seiner Geschichte ist Patrick Mayrhofer ein gutes Beispiel dafür, wie Inklusion im Unternehmen funktionieren kann. Von seiner Ausbildungsstätte, die sich nach dem Unfall an seine veränderten Bedürfnisse anpasste, bis zum heutigen Job, in dem er seine Expertise optimal nutzen kann.

Von Förderungen und Zukunftsvisionen

Laut Statistik Austria leben in Österreich 18,4 Prozent der Menschen mit einer Behinderung. Laut dem Sozialministerium erreichen von den beeinträchtigten Erwachsenen in Österreich rund 30 Prozent einen Pflichtschulabschluss, aber nur wenige von ihnen haben einen Matura- oder Universitätsabschluss. Zudem attestiert das Arbeitsmarktservice Österreich (AMS) Menschen, die „nur“ einen Pflichtschulabschluss haben, das höchste Arbeitslosigkeitsrisiko. Die ohnehin schon vulnerable Personengruppe ist damit zusätzlich von Nachteilen betroffen. Ende August 2020 waren 14.499 Personen mit Behinderung beim AMS als arbeitslos registriert bzw. dort in Schulung.

Anfang September ließ die Regierung verlautbaren, dass man Arbeitsmarktbarrieren für Menschen mit Behinderung weiter abbauen will, mit konkreten Ergebnissen im nächsten Jahr. Um einen Überblick über die Lage am Arbeitsmarkt zu bekommen, soll es dazu konkrete Studien sowie einen Inklusionsindex geben. Die wichtigste Änderung der Regierung: Künftig soll es für Menschen mit Behinderung, die in Tageswerkstätten arbeiten, einen richtigen Lohn sowie eine sozialversicherungsrechtliche Absicherung geben. Für Beschäftigte in Tageswerkstätten gibt es im Moment nämlich keine Sozialversicherung und Entlohnung, sondern nur ein Taschengeld. Mit ihrer Tätigkeit ist also kein Anspruch auf Pensionsleistungen verbunden.

Wenn man etwas erlebt hat, bei dem man auch sterben hätte können, dann nimmt man das Leben wirklich als Geschenk. Hat man das Trauma verarbeitet, ist man mental stärker als zuvor.

Patrick Mayrhofer

Derzeit gibt es verschiedenen Förderungen für Unternehmen bei Ausbildung und Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen. Mit Lohnkostenförderungen sollen Unternehmen beispielsweise dazu angehalten werden, einen adäquaten Arbeitsplatz bzw. Ausbildungsplatz zu schaffen und das neue Arbeitsverhältnis auch nachhaltig abzusichern. Das Ziel ist, Betroffene nicht nur in speziell dafür ausgelegten integrativen Betrieben unterzubringen, sondern in Betrieben aller Art, auf gleicher Augenhöhe mit allen anderen MitarbeiterInnen.

Inklusion und Selbstbestimmung lassen Welten wieder ganz werden

Die fachliche und soziale Kompetenz der BewerberInnen völlig vorurteilsfrei in den Blick zu nehmen, lohnt sich definitiv. Denn viele Menschen mit Behinderung bringen zahlreiche Qualifikationen mit, ihre Leistungsfähigkeit unterscheidet sich in den meisten Tätigkeitsbereichen nicht von Mitarbeitenden ohne Beeinträchtigung. Außerdem bringen Betroffene oft eine große Portion Lebenserfahrung mit, wie Patrick Mayrhofer bestätigt: „Für einen Anfang 20-Jährigen bricht nach so einem Unfall natürlich die Welt zusammen. Andererseits, wenn man etwas erlebt hat, bei dem man auch sterben hätte können, dann nimmt man das Leben wirklich als Geschenk. Hat man das Trauma verarbeitet, ist man mental stärker als zuvor.“ Inklusion im Betrieb bedeutet für Betroffene also eine Menge. Nämlich Wertschätzung, Integration und ein selbstbestimmtes Leben.

„13 Jahre nach dem Unfall hat sich mein Leben in eine so positive Richtung entwickelt, wie ich es mir nicht hätte vorstellen können“, sagt Mayrhofer heute. „Ich arbeite nun bei einer Firma, die Handprothesen herstellt und kann diese sogar testen. Ich bin in der Produktentwicklung mit dabei, kann viel realistischer nachvollziehen, was unsere AnwenderInnen brauchen. So kann ich optimal abschätzen, wo man noch nachbessern muss.“ Diejenigen miteinbeziehen, die es wirklich betrifft – ein Punkt, der überall selbstverständlich sein sollte, wo Lösungen gefragt sind.

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    Patrick Mayrhofer aus Helfenberg machte mit der Entscheidung, seine linke, nicht mehr funktionstüchtige Hand amputieren zu lassen, Schlagzeilen.Foto: Patrick Mayrhofer
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    In den folgenden Jahren machte er als Snowboarder ordentlich Tempo. 2015 gewann Mayrhofer bei der Para-Snowboard-Weltmeisterschaft die Goldmedaille.Foto: Oriol Molas für IPC

Prothesen mit künstlicher Intelligenz

In Sachen Forschung und Innovation sitzt Mayrhofer an der Quelle. Erstaunlicherweise berichtet der Experte, dass sich bis vor zwei, drei Jahren in Sachen Prothesen und Robotik sehr wenig tat. „Es wurde in den letzten Jahrzehnten natürlich immer besser, allerdings langsam. Derzeit geht es plötzlich rasend schnell und zwar deshalb, weil die orthopädietechnische Industrie auf Digitalisierung setzt. Man verbessert gerade die Steuerung von Handprothesen. Man geht dahin, dass man Signale von den Bewegungen der AnwenderInnen in individuelle Muster umwandelt, die dann die Prothese steuern.“ Außerdem hält Künstliche Intelligenz Einzug in die Prothesen. Aus den Daten der PatientInnen können zukünftig Rückschlüsse gezogen und in der Folge Bewegungen interpretiert werden. „In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird sich im Bereich der Prothetik bestimmt sehr viel verändern“, so Mayerhofer.

„Ist das ein Roboterarm?“

Ein Kernpunkt funktionierender Integration ist der respektvolle Umgang miteinander; dazu zählt auch die Sprache. Denn ironischerweise verhalten wir uns umso auffälliger, je „cooler“ und aufgeschlossener wir uns geben wollen. Das gilt auch für vermeintlich höfliche Gesten: „Die ersten Jahre kam ein Satz aus meinem Umfeld ständig: Kann ich dir helfen? Viele glauben fälschlicherweise, mit nur einer Hand braucht man im Alltag Hilfe“, schildert Patrick Mayrhofer. „Da ich beruflich mit behinderten Menschen zu tun habe, kann ich aber sagen: Wenn jemand Hilfe braucht, dann sagt er oder sie das auch. Generell ist es ja gut gemeint, Hilfe anzubieten. Aber meistens sind die Betroffenen so weit, dass sie Hilfeansuchen von selbst äußern.“

Mit seiner Behinderung habe er bislang aber nur ganz wenig Negatives erfahren. Eine Sache nervt dann aber doch: „Was mich persönlich stört, ist, wenn Leute starren“, sagt der Träger einer schwarzen Prothese mit einer weißen Hand. „Das zieht natürlich Blicke auf sich. Aber ich mache einen Unterschied, ob jemand nur schaut, weil man etwas sieht, was man nicht kennt, oder ob jemand richtig starrt. Das bekommt man mit, man fühlt das irgendwie.“

Man geht dahin, dass man Signale von den Bewegungen der AnwenderInnen in individuelle Muster umwandelt, die dann die Prothese steuern.

Patrick Mayrhofer

Die bessere Lösung ist für Mayrhofer ganz klar: einfach fragen. „Kinder sind da ganz toll. Die gehen oft her, ziehen an der Hand und fragen ganz offen: ‚Was ist denn das, ist das eine Roboterhand?‘ Die Eltern ziehen sie dann meistens weg und ermahnen. Aber ich erwidere darauf dann lieber ganz gelassen: ‚Ja, da hast du recht, das ist eine Roboterhand‘ und erkläre es ihnen.“ Das Wichtigste ist also Offenheit im Umgang mit einer Behinderung. Im Betrieb äußert sich das durch Mitarbeit auf Augenhöhe, man will nicht ständig mit Samthandschuhen angefasst werden.

Das Handicap und weitere No-Gos

Auch Menschen mit wenig Empathie erkennen wohl, dass man Floskeln wie „an den Rollstuhl gefesselt“ ganz schnell aus dem Sprachgebrauch verbannen sollte. Doch was darf man eigentlich sagen und was nicht? Wie alles andere auch, kann man eine nichtdiskriminierende Sprache schnell erlernen, wenn man nur offen dafür ist. Als allgemeine Bezeichnungen sind die Ausdrücke „behinderte Menschen“ oder „Menschen mit Behinderung“ im Deutschen politisch korrekt. Die Begriffe weisen nämlich darauf hin, dass die Behinderung nicht etwas ist, das zur Person gehört, sondern der Person durch ungünstige soziale Umstände widerfährt. Den Ausdruck „Menschen mit Beeinträchtigungen“ verwendet man hingegen, wenn die Art der Funktionseinschränkung thematisiert wird. Beispielsweise wenn es um Mobilitätsbeeinträchtigungen, Sehbeeinträchtigungen oder psychische Beeinträchtigungen geht. Mit „der/die Behinderte“ sowie „behindert sein“, werden Personen zu sehr auf ihre Behinderung reduziert, als wäre dies ihr einziges identitätsstiftendes Merkmal.

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Der Oberösterreicher arbeitet inzwischen als Entwickler und Techniker beim Prothesenhersteller Ottobock.Foto: Patrick Mayrhofer

Viele sehen auch im englischen Ausdruck „Handicap“ eine höfliche Umschreibung für Beeinträchtigungen jeglicher Art. Doch blickt man genauer hin, wird der Ausdruck schon in seiner Ursprungssprache als beleidigend wahrgenommen. Er wurde ursprünglich nämlich nicht von Organisationen verwendet, die sich für Gleichberechtigung behinderter Menschen einsetzen, sondern von Charity-Organisationen. Der Grund: Er erinnert an den Ausdruck „cap in the hand“, also das Betteln. Inzwischen wurde „Handicap“ sogar von der WHO aus ihrer Definition von Behinderung entfernt. Auch das Wort „taubstumm“ gehört der Vergangenheit an und wird heute durch „gehörlos“ ersetzt.

Warum sprachliche Inklusion wichtig ist

Menschen mit besonderen Bedürfnissen, oder, wie es im Englischen heißt, „special needs“ – das klingt doch höflich, oder? Nicht, wenn man genauer hinhört. Denn der Begriff steckt Menschen mit Behinderung in eine bestimmte Gruppe. Es gibt die „normalen Bedürfnisse“ und dann gibt es noch die nicht-normalen, die andersartig sind. Dabei haben alle Menschen doch die gleichen Bedürfnisse. Nämlich die nach Gleichberechtigung, Respekt und gleichen Chancen, weiß auch Patrick Mayrhofer: „Der einfachste Weg, wie man Menschen mit körperlicher oder geistiger Behinderung integriert, ist, indem man sie einfach so nimmt, wie sie sind. Indem man die Stärken der jeweiligen Person anerkennt und versucht, diese bestmöglich zu fördern.“ Die größten Barrieren bestehen offensichtlich immer noch in unseren Köpfen.

Good to know: Informationen und Anlaufstellen für Betriebe und Menschen mit Behinderung

  • Das Arbeitsmarktservice sowie das Sozialministeriumsservice bieten in ganz Österreich kostenlos Beratung für Unternehmen und Arbeitsuchende an.
  • Das BBRZ – Berufliches Bildungs- und Rehabilitationszentrum – begleitet Menschen nach Unfall oder Krankheit zurück in das Berufsleben und fördert deren Integration.
  • Über den Europäischen Sozialfonds können öffentliche Verwaltungen, Nichtregierungsorganisationen, Wohlfahrtsverbände sowie Sozialpartner Fördermittel für berufliche Integrationsprojekte erhalten.
  • Der Dachverband berufliche Integration (dabei-austria) fördert die Kommunikation zwischen Angeboten, Organisationen, Projekten und ihren Vertreterinnen/Vertretern.
  • Das Projekt ABAK (Arbeitsvermittlung für Akademikerinnen/Akademiker mit Behinderung und/oder chronischer Erkrankung) unterstützt als Servicestelle Betroffene beim Einstieg in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
  • Die Jobplattform myAbility.jobs bietet Jobangebote von Unternehmen, die ausdrücklich Menschen mit Behinderung suchen. Jobsuchende können sich hier völlig chancengleich bewerben.
  • Das Angebot ÖZIV-Support richtet sich an Menschen mit Körper- und/oder Sinnesbehinderungen sowie chronischen Krankheiten und besonderen Schwierigkeiten am
Credits Artikelbild: adobe stock | Firma V

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