Wirtschaftswachstum messen

Preisfrage: Wie kann man Wirtschaftswachstum messen?

Das Wirtschaftswachstum gilt als eine Leitwährung der Ökonomie. Was aber messen die Experten da eigentlich? Wie erstellen sie ihre Prognosen? Woher kommen die Daten? Was sagen sie aus – und was verschweigen sie? Top-Analyst Christian Helmenstein liefert Antworten.

Menschen wie Christian Helmenstein wissen, wohin die Reise geht. Sie messen das Wirtschaftswachstum – also den Pulsschlag unserer Volkswirtschaft und leiten daraus Vorhersagen ab, in welchem Ausmaß und in welcher Geschwindigkeit sich die Leistungskurve entwickelt. Wenn nicht gerade eine Pandemie für weltweite Erschütterungen und fundamentale Entgleisungen sorgt, liefern diese Analysen und Prognosen präzise Orientierungspunkte in einem dicht vernetzten Gesamtgefüge.

Mit Wahrsagerei hat das nichts zu tun. Vielmehr sind es komplexe Berechnungsmodelle, mit denen die Wissenschaftler versuchen, der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen und das Wirtschaftswachstum zu messen. Christian Helmenstein, Chefökonom der Industriellenvereinigung und Leiter des Economica Instituts für Wirtschaftsforschung, gilt in dieser Disziplin als einer der Besten des Landes.

Anhand welcher Daten messen Experten das Wirtschaftswachstum?

Wie aber kommt er zu seinen Vorhersagen? Welch Daten verwendet er und woher bekommt er sie? Und welche Hürden gibt es am Weg zur Konjunkturprognose? Hier liefert der Experte ausführliche Antworten.

Wirtschaftsforscher Christian Helmenstein
Wirtschaftsforscher Christian Helmenstein: „Das Gravitationszentrum für das weltweite Wirtschaftswachstum hat sich nach Asien verlagert.“Foto: IV

Herr Helmenstein, Sie prognostizierten zu Jahreswechsel als Chefökonom der Industriellenvereinigung für 2021 ein Wirtschaftswachstum von 5,1 Prozent. Gleichzeitig sagte das Wifo ein Plus von 3,1 Prozent voraus, die Nationalbank von 3,6 Prozent und das IHS von 4,5 Prozent. Das sind Unterschiede, die außerhalb der Schwankungsbreite liegen. Wie kommt es zu diesen Differenzen? Sie wirken für Nicht-ÖkonomInnen etwas verstörend.

Christian Helmenstein: Diese Unterschiede in den Prognoseergebnissen sind doch etwas Positives. 

Finden Sie? 

Christian Helmenstein: Ja. Gäbe es systematisch idente Prognoseergebnisse, hieße das entweder, dass alle Akteure dasselbe Prognosemodell und zudem noch dieselben Prognoseannahmen heranziehen würden. Das dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Oder, schlimmer noch, dass die Prognosen untereinander abgestimmt wären. So aber sieht man, dass die einzelnen Institute unabhängig voneinander arbeiten. Eine zweite und dritte Meinung zu etwas zu erhalten, was notorisch unsicher ist, nämlich die zukünftige Wirtschaftsentwicklung, halte ich für grundsätzlich begrüßenswert.

Aber es bleibt die Frage: Wie kommt es zu diesen Divergenzen?

Christian Helmenstein: Die Wirtschaftsforschungsinstitute bemühen sich, ein bestmögliches Bild des zukünftigen konjunkturellen Geschehens zu entwerfen. Dabei ist mit Annahmen über verschiedene, sogenannte exogene Einflussgrößen, etwa das Wechselkursgeschehen, zu arbeiten. Eine Prognose stellt damit eine konditionale Aussage über einen zukünftigen Konjunkturverlauf dar. Es handelt sich um eine „wenn, dann“-Aussage: Wenn bestimmte Annahmen eintreffen, dann ist jenes Ergebnis zu erwarten. Und da verwendet jedes Institut eigene Annahmen, die in die Prognosemodelle eingehen. Zudem kommen unterschiedliche Modelltypen zum Einsatz, in denen unter anderem das Verhalten der Menschen als KonsumentInnen und ProduzentInnen auf jeweils spezifische Weise abgebildet wird. 

Kann man dann überhaupt eine richtige Prognose erstellen?

Christian Helmenstein: Theoretisch ja. Nämlich dann, wenn man über ein Modell verfügte, das zum einen die wirtschaftlichen Strukturen vollständig und richtig abbildet und zum anderen mit zutreffenden Annahmen „gefüttert“ wird. Aber: Beide Voraussetzungen werden realiter nicht erfüllt. Sie sind auch nicht erfüllbar. Die verwendeten Modelle sind weit davon entfernt, die Realität perfekt abzubilden. 

Wie nähern Sie sich denn dann der Wirklichkeit an?

Christian Helmenstein: Die WirtschaftsforscherInnen legen ihren Prognosen Annahmen zugrunde. Sie treffen bestenfalls annähernd, mitunter aber auch kaum zu. Bei den Herbstprognosen aus dem Jahr 2019 beispielsweise fand sich für das Jahr 2020 nicht die Spur einer Annahme bezüglich des Auftretens einer Pandemie. So kommt es dann zu mehr oder minder großen Abweichungen der Prognosen von den tatsächlichen Werten. Im Falle von COVID-19 zur größten, seit es modellbasierte Prognosen gibt.

Aber welcher Prognose soll ich jetzt glauben? Die Abweichungen sind ja je nach Institut unterschiedlich.

Christian Helmenstein: Bei diesem Thema sollte es nicht um eine Glaubensfrage gehen, sondern um Nachvollziehbarkeit. Wichtig ist, dass die Annahmen transparent gehalten sind und die Aussagen präzise formuliert werden. Eine Aussage dergestalt, dass wir nach der COVID-19-Pandemie einen Aufschwung erwarten können, stellt keine Prognose dar, da sie weder zeitlich und örtlich noch quantitativ bestimmt ist. Besonders häufig ist dieser Typus von Aussage an den Finanzmärkten zu beobachten, wonach ein bestimmter Marktakteur einen Kurseinbruch doch richtig vorhergesagt hätte. In den seltensten Fällen treffen solche behaupteten Erfolgszuschreibungen nach Maßgabe der an eine Prognose anzulegenden Kriterien tatsächlich zu.

In wohl kaum einem anderen Bereich der Wirtschaftsforschung liegen Licht und Schatten so eng beieinander wie bei der Konjunkturprognose.

Christian Helmenstein, Wirtschaftsforscher

Wie meinen Sie das?

Christian Helmenstein: Lassen Sie mich eine solche Aussage wagen: „Wir werden in absehbarer Zeit eine Kurskorrektur an den Aktienmärkten um mindestens 5,5 Prozent sehen.“ Hielten wir in einem Jahr Rücksprache, würde ich mit über 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit recht gehabt haben. Und doch wird diese angebliche „Prognose“ keinem einzigen Gütekriterium gerecht. 

Warum nicht?

Christian Helmenstein: Sie spezifiziert nicht den Zeitpunkt der Kurskorrektur: Trifft sie im nächsten Monat ein oder erst in drei Quartalen, im Schlusskursvergleich über einen oder mehrere Tage hinweg oder gar im Intraday-Handel? Sie nennt nicht die betreffenden Märkte: Ist der globale Aktienmarkt oder nur der inländische Markt, das Segment der liquidesten Titel, also der Blue Chips, oder der breite Markt gemeint? Und schließlich wird durch die Nachkommastelle eine ungerechtfertigte Scheingenauigkeit suggeriert. In wohl kaum einem anderen Bereich der Wirtschaftsforschung liegen Licht und Schatten so eng beieinander wie bei der Konjunkturprognose – hier gilt es, sich das Ansehen jedes Quartal neu zu verdienen.

Woher bekommen Sie die Daten für Ihre Prognosen?

Christian Helmenstein: Einen großen Anteil haben die Daten der Statistik Austria und von Eurostat. Dazu kommen eigene Erhebungen. Und es gilt – weil Österreich eine offene Volkswirtschaft ist – sehr viele Rahmenbedingungen zu berücksichtigen, die von internationalen Märkten kommen. Da spielen institutionelle Faktoren wie beispielsweise Wirtschaftsabkommen – etwa beim Brexit – eine Rolle, aber auch Marktgrößen wie der Ölpreis und die wichtigsten Wechselkurse. Dafür ziehen wir verschiedene Datenquellen inter- und supranationaler Anbieter heran.

Die aber ihre eigenen Modelle auf Daten aufbauen, die ihnen die einzelnen Staaten liefern. Ist das nicht ein sich selbst befeuernder Kreislauf?

Christian Helmenstein: Sie sprechen die allgemeine Interpendenz von wirtschaftlicher Aktivität an – dass im Ökonomischen nämlich alles mit allem zusammenhängt. Das ist eine der zentralen Herausforderungen jeder Wirtschaftsprognose. Aber Sie benötigen Startwerte. In gewissem Sinne haben wir es in dieser Hinsicht in Österreich etwas leichter als zum Beispiel die Kolleginnen und Kollegen in den USA. 

Warum?

Christian Helmenstein: Das Gewicht der österreichischen Volkswirtschaft für das globale Wachstum fällt so gering aus, dass es für internationale Prognosezwecke vernachlässigbar ist, ob Österreich mit einem Tempo von zwei, drei oder vier Prozent wächst. Die konjunkturelle Dynamik hierzulande hat vernachlässigbare Rückwirkungen auf jene der USA. Umgekehrt ist die US-amerikanische Volkswirtschaft aufgrund ihrer Größe eine maßgebliche exogene Einflussgröße für die österreichische Prognose.

Österreich kommt zwar nur auf einen Anteil von nicht einmal zweieinhalb Prozent an der Wirtschaftsleistung der Europäischen Union. Aber welche Rolle spielt die EU als Gesamtes in Wachstumsberechnungen?

Christian Helmenstein: Wäre 2020 ein konjunkturelles Normaljahr ohne Pandemie geworden, hätte die gesamte Europäische Union nach unserer letzten Prä-COVID-Berechnung nur siebeneinhalb Prozent zum globalen Wachstum beigetragen. Also selbst die gesamte Europäische Union, seinerzeit noch einschließlich des Vereinigten Königreichs, hätte keinen dominanten Einfluss mehr auf das globale Konjunkturgeschehen ausgeübt. Die USA mit einem Wachstumsbeitrag von gut neun Prozent allein übrigens auch nicht.

Wirtschaftsmetropole Shanghai
Wirtschaftsmetropole Shanghai: China und Indien liefern die Hälfte des globalen Wirtschaftswachstums.Foto: Adobe Stock | Anton Tolmachov

Wo „spielt die Musik“ dann?

Christian Helmenstein: Das wirtschaftliche Gravitationszentrum hat sich längst nach Asien verlagert – und COVID-19 hat diesen Prozess noch beschleunigt, wenn wir bedenken, dass China in diesem Jahr unter den Top-25-Volkswirtschaften als einzige weltweit ein nennenswertes BIP-Wachstum verzeichnen wird. Ohne COVID-19 hätten China und Indien zusammengenommen mit 54 Prozent mehr als die Hälfte des globalen Wachstums getragen. Daran lassen sich die tatsächlichen Größenverhältnisse gut ablesen. Deshalb ist es vertretbar, große Volkswirtschaften wie China, die USA und zukünftig auch Indien in den Prognosemodellen anders zu behandeln, weil sie ein derart hohes Gewicht haben, dass ihre eigene Dynamik die globale Performance zu wesentlichen Teilen mitbestimmt.

Nehmen wir uns als Österreich zu wichtig?

Christian Helmenstein: Nein. Das mag im Lichte des zuvor Gesagten zunächst allerdings überraschend klingen. Typischerweise unter-, nicht überschätzen wir unsere wirtschaftliche Bedeutung jedoch. Denn wenn wir es nicht auf das Wachstum beschränken, sondern von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit in absoluten Größen sprechen, rangiert die österreichische Volkswirtschaft unter den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen auf Rang 27. Für eine Volkswirtschaft mit nicht einmal neun Millionen EinwohnerInnen finde ich dies höchst beeindruckend! Wir liegen damit als Volkswirtschaft beispielsweise vor einem flächenmäßig rund 33-mal so großen Land wie Argentinien oder wirtschaftlich in etwa gleichauf mit dem Iran oder Thailand. Wobei die beiden Länder rund neun- beziehungsweise siebenmal so viele EinwohnerInnen wie Österreich aufweisen. Das zeigt, welch beträchtlichen Wohlstand wir in diesem Land erreicht haben.

Wie wird diese Leistungsfähigkeit gemessen?

Christian Helmenstein: Gesamthaft betrachtet nach Maßgabe des Bruttoinlandsproduktes zu Wechselkursen, sonst durch das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf.

Das Bruttoinlandsprodukt hat aber keine Aussagekraft bezüglich der Wohlstandsverteilung innerhalb der Bevölkerung …

Christian Helmenstein: Das stimmt. Und wird hoffentlich auch niemand behaupten wollen. 

Ein Jahr wie das vergangene, wo derart viele Unbekannte – Brexit, Corona, US-Wahl etc. – wirksam sind: Ist das für WirtschaftsforscherInnen eine besonders reizvolle Aufgabe oder „nervt“ es, weil man seine Modelle nur auf Sand bauen kann?

Christian Helmenstein: Tatsächlich war es eine ganz besondere Herausforderung. Es galt, alles aufzubieten, was an methodischer Expertise zur Verfügung stand. Beispielsweise waren bestimmte Datenlücken zu überbrücken. So war es beispielsweise für Statistik Austria schon schwierig, in bestimmten Teilbereichen der Wirtschaft die Preisdynamik präzise zu erfassen, weil aufgrund des Lockdowns Geschäfte geschlossen wurden oder es spontane Last-Minute/Prä-Lockdown-Rabattaktionen gab. Wie ist damit umzugehen? Damit sind spannende methodische Fragen verbunden.

Wie vergleichbar sind die Prognosemodelle und damit die angegebenen Wachstumsraten der Staaten untereinander überhaupt? Gibt es einen fairen Vergleich zwischen den Volkswirtschaften von Albanien, Brunei, Südafrika, Österreich und den USA? Wenden alle vergleichbare Modelle an?

Christian Helmenstein: Im Prinzip schon, weil es internationale Standards gibt, wie etwa jenen der Bewertungskontinuität. Aber natürlich bestehen unterschiedliche Professionalisierungsgrade. Gerade in kleinen und weniger entwickelten Volkswirtschaften mit geringer Bevölkerungsgröße kann die Daten- und Modellqualität von sehr wenigen handelnden Personen abhängen. In diesen Ländern finden sich immer wieder ausgezeichnet ausgebildete und professionell agierende Kolleginnen und Kollegen, die aufgrund eben dieser Qualitäten jedoch nicht selten binnen weniger Jahre auf besser dotierte Positionen, häufig im Ausland, wechseln.

Mitunter sind auch Versuche politischer Einflussnahme festzustellen. Nicht alle scheinen ohne Ausnahme erfolglos zu sein.

Christian Helmenstein

Wirtschaftsdaten sind ja nicht zuletzt auch ein Instrument für politisches Marketing. Da gibt es – abhängig vom demokratischen Zustand eines Landes – auch entsprechende Einflussnahmen. Wie geht man damit als WirtschaftsforscherIn um?

Christian Helmenstein: Ja, mitunter sind auch Versuche politischer Einflussnahme festzustellen. Nicht alle scheinen ohne Ausnahme erfolglos zu sein. Hier gilt: Kein statistisches Werk ist über jeden Zweifel erhaben. Nirgendwo. Um solchen Verzerrungen entgegenzuwirken, lassen sich auch unkonventionelle Indikatoren heranziehen, mit denen sich zentrale Größen überprüfen lassen. Hier kommt den PrognostikerInnen zugute, dass im Ökonomischen alles mit allem verwoben ist. Dadurch kann man sich demselben Phänomen von mehreren Seiten und über verschiedene Ebenen, beispielsweise sowohl über Güter- als auch über Zahlungsströme, annähern.

Bleiben bei dieser Art, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zu messen, nicht ökologische Faktoren und soziale Aspekte auf der Strecke? 

Christian Helmenstein: Mit einem entsprechenden Pro-Kopf-Einkommen gehen verallgemeinernd formuliert auch bestimmte soziale und ökologische Entwicklungen einher. Wesentliche Kenngrößen der sozialen und ökologischen Entwicklung – wie die Lebenserwartung und die Beschaffenheit der Umwelt – korrelieren positiv mit der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Freilich lassen sich zahlreiche Beispiele finden, die einer positiven Korrelation zuwiderlaufen. Dennoch stellt das BIP pro Kopf eine brauchbare Näherung dar, die zwar auf einer schmalen sozioökonomischen Basis operiert, aber durchaus auch in anderer Hinsicht Ableitungen nahelegt.

In Deutschland wird für eine Gesamtsicht ein nationaler Wohlfahrtsindex errechnet, der unter anderem den CO2-Ausstoß, Ausgaben für Bildung oder den Wert des Ehrenamts mitberücksichtigt. Ist das nicht aussagekräftiger als ein BIP pro Kopf-Wert?

Christian Helmenstein: Tatsächlich lässt sich mit einem nicht unbeträchtlichen Aufwand auch der Versuch unternehmen, über möglichst treffgenaue Indikatoren weitere Dimensionen der gesellschaftlichen Entwicklung abzubilden. Es handelt sich dabei zumeist um sogenannte Accounting-Ansätze, zu denen auch der nationale Wohlfahrtsindex oder das Konzept des Total Economic Value zählen. Als einem empirisch arbeitenden Ökonomen sind mir solche Arbeiten sehr willkommen. Sie erweitern das Spektrum der zur Verfügung stehenden Indikatoren. Ob all diese Anstrengungen unter Kosten-Nutzen-Gesichtspunkten jedoch einen hinreichenden Erkenntnismehrwert, trotz aller Unzulänglichkeiten des Bruttoinlandsproduktes als Messkonzept, zu erbringen imstande sind, wird wohl erst in der Rückschau zu beantworten sein.

Gibt es noch andere Kenngrößen, die etwas über den inneren Zustand einer Volkswirtschaft verraten?

Christian Helmenstein: Ja, beispielsweise ist die schon angesprochene Lebenserwartung ein erstaunlich mächtiger Indikator. Stagniert oder sinkt sie sogar, dann kann dies an einem Wohlstandseinbruch wie anfänglich nach dem Ende des Sozialismus in Russland liegen. Doch kann ein solches Phänomen auch trotz im Durchschnitt zunehmender Pro-Kopf-Einkommen – wie in den USA – zu beobachten sein. Dies deutet darauf hin, dass weite Bevölkerungsteile nicht am Einkommenszuwachs partizipieren. Es bestehen also ungelöste Verteilungsprobleme. Damit zum Teil in Verbindung stehend, können in beiden Fällen auch Hürden beim Zugang zum Gesundheitswesen eine wesentliche Rolle spielen.

Wirtschaftswachstum Armut
In den USA haben weite Teile der Bevölkerung nichts vom statistischen Plus bei den Pro-Kopf-Einkommen. Die Folge: eine sinkende Lebenserwartung.Foto: Adobe Stock | Joshua

Aus coronabedingt aktuellem Anlass: Wie sehr verwässern Förder- und Stützprogramme des Staates die Prognoseergebnisse? Vor allem, wenn sie so großzügig sind wie aktuell.

Christian Helmenstein: Dieses Problem ist aufgrund seiner Dimension in dieser Krise besonders augenfällig geworden. Wir haben eine auf den Einsatz von Ressourcen wie Arbeitskraft, Sachkapital und immaterielles Kapital wie Patente und Lizenzen abstellende volkswirtschaftliche Gesamtrechnung. Deren Ergebnisse weichen von Cash-Betrachtungen erheblich ab.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Christian Helmenstein: Ziehen wir die weit verbreiteten Kurzarbeitsbeihilfen aus dem ersten Lockdown heran. Die Beschäftigten konnten während dieser Zeitspanne zwischen 80 und 90 Prozent ihres früheren Arbeitsentgeltes erhalten, obwohl ihre Arbeitsleistung nur zehn Prozent des Normalvolumens ausmachte. In eine Wertschöpfungsrechnung gehen die Arbeitseinkommen ein, die infolge der Kurzarbeitsbeihilfen nur wenig zurückgegangen sind. Der reale Output ist aber in einem weitaus stärkeren Ausmaß gesunken. Die Diskrepanz ist evident.

Nehmen wir an, die Arbeitsleistung sinkt allgemein auf null: Was bedeutet das für die Wertschöpfungsrechnung?

Christian Helmenstein: Selbst wenn fiktiv eine Volkswirtschaft einen Monat lang den Betrieb komplett einstellte, wäre die gemessene Wertschöpfung nicht null, da Wertschöpfungskomponenten, wie die Abschreibungen, weiterlaufen. In diesem Fall würde also noch ein BIP ausgewiesen werden, obwohl realiter nichts produziert und cashmäßig nichts erwirtschaftet wurde. Dieser Sachverhalt wird uns im methodisch-statistischen Diskurs in den kommenden Jahren noch beschäftigen müssen. Denn er bedeutet umgekehrt, dass man sich durch Verschuldung, also zu Lasten zukünftig lebender Generationen, einen – wenn auch nur flüchtigen – Wohlstand erkaufen kann. Aber nur eine Zeit lang.

Gegenüber einem Zufallsgenerator bietet eine Prognose über einen Zeitraum von 18 Monaten noch einen gewissen Mehrwert. Dann aber endet selbst in konjunkturellen Normalzeiten der Prognosehorizont.

Christian Helmenstein

Bei Wettervorhersagen heißt es, dass alles, was über sieben bis zehn Tage hinausgeht, nicht mehr sehr genau sein kann. Wie ist das in der Wirtschaftsforschung? Können Sie heute schon sagen, wie sich 2025 oder 2030 die Konjunktur entwickeln wird? Ist das noch seriöse Wirtschaftsprognostik? Oder Wahrsagerei?

Christian Helmenstein: Diese Frage höre ich häufig und fühle mich ein bisschen provoziert. 

Das soll so sein.

Christian Helmenstein: Daher pflege ich darauf scherzhaft zu antworten, dass WirtschaftsforscherInnen Wetterprognosen zum Aufwärmen verwenden. Die Kolleginnen und Kollegen der Meteorologie mögen es mir verzeihen. Den Luft- und Wassermolekülen in der Atmosphäre ist es gänzlich egal, wer wann welche Wetterprognose veröffentlicht hat. Das ist bei ökonomischen Aussagen anders, weil die Wirtschaftssubjekte, über deren Verhalten wir Prognosen erstellen, wiederum auf unsere Prognosen reagieren. Es gilt also, die Rückkoppelungseffekte der eigenen Prognose modellmäßig zu berücksichtigen. Als wären Wetterprognosen nicht schon schwierig genug, dieser Feedback-Mechanismus ist noch eine Herausforderung für sich.

Wann endet also zeitlich die Prognosefähigkeit eines Wirtschaftsforschers?

Christian Helmenstein: Wir können – abgesehen von Sondersituationen à la COVID-19 – recht präzise auf sechs Monate hinaus prognostizieren. Gegenüber einem Zufallsgenerator bietet auch eine Prognose über einen Zeitraum von 18 Monaten noch einen gewissen Mehrwert. Dann aber endet selbst in konjunkturellen Normalzeiten der Prognosehorizont. Wer vorgibt, er könne verlässlich prognostizieren, welche konjunkturelle Dynamik sich in drei Jahren einstellen wird, behauptet etwas, was nicht eingelöst werden kann.

Credits Artikelbild: Adobe Stock | Gorodenkoff

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