Warum sind nach wie vor so wenige Frauen in technischen Berufen tätig? Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels wird diese Tatsache besonders offensichtlich. Therese Niss hat gemeinsam mit heimischen Industriebetrieben die MINTality-Stiftung gegründet, um hier gegenzusteuern. Grund für dieses Interview – und eine ganze Serie zum Thema.
Das Motiv hat einen schalen Beigeschmack. Aber man kann auch sagen: Wenigstens passiert nun endlich etwas. Worum es geht? Um die 23,6 Millionen Euro, die die Stadt Wien zugesichert hat, um eine „Frauen in die Technik“-Offensive zu starten. Begründet wird die Geldspritze nämlich mit dem massiven Fachkräftemangel. Vereinfacht ausgedrückt kann man sagen: Erst die Not sorgt dafür, dass man aktiv wird. Gleichzeitig aber ist freilich jede Aktion, die Geschlechterklischees und Stereotypen aufbricht, langfristig sinnvoll.
Aus diesem Grund hat Therese Niss als Nationalratsabgeordnete und Unternehmerin viele Jahre daran gearbeitet, eine Stiftung ins Leben zu rufen, die unserer Gesellschaft in Sachen Rollenbilder auf die Sprünge helfen soll. Kürzlich konnte sie gemeinsam mit Partnerbetrieben aus der Industrie das Ergebnis präsentieren: die MINTality-Stiftung. Ein guter Grund, um mit der Fachfrau das durchaus komplexe Thema genauer zu durchleuchten – und gleichzeitig der Startschuss für die Fakt & Faktor-Serie „POWERFRAUEN“, in der wir jeden Monat ein spannendes Role Model aus der MINT-Welt porträtieren werden.
Wir sind im Jahr 2022, und noch immer werden unzählige technische Berufe fast ausschließlich von Männern ausgefüllt. Wie nehmen Sie diese traurige Tatsache als Frau wahr?
Therese Niss: Natürlich ist es sehr frustrierend. Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Anteil an Frauen in qualifizierten technischen Berufen tatsächlich nur 25 Prozent beträgt. In einigen Studiengängen, wie etwa dem Maschinenbau, der Informatik oder Elektrotechnik, beläuft sich der Frauenanteil sogar nur auf zehn bis zwölf Prozent. In den technischen Lehren ist der Anteil teilweise nicht viel höher – auch wenn er nun langsam ansteigt. Das ist schade, denn ich bin mir sicher, dass es sich hier um Berufe handelt, die auch für Frauen sehr erfüllend sein können. Aber ich denke, dass hier bis heute noch sehr viele Mythen mitschwingen …
Das müssen Sie mir bitte näher erklären.
Therese Niss: Stellen wir uns dazu einmal die Frage: Für wen sind diese Berufe eigentlich gemacht? Für Männer, für junge Burschen? Ja, davon sind einige überzeugt. Ebenso davon, dass Mädchen in diesem Bereich einfach weniger begabt sind. Doch beide Behauptungen stimmen nicht! Es sind Vorurteile, und sie bestärken mich in meiner Arbeit bei der MINTality-Stiftung. Denn es sagt mir: Wir müssen hier rasch etwas ändern und mehr Mädchen und Frauen für die Technik begeistern. Allein schon aus der wirtschaftlichen Perspektive. Stichwort: Fachkräftemangel. Aber natürlich sehe ich diese Problematik auch aus der Sicht einer Frau und Mutter. Es liegen in technischen Berufen unzählige Chancen für uns Frauen bereit, sodass ich Themen wie Empowerment, Selbstständigkeit oder Innovationskraft auch aus gesellschaftspolitischer Sicht für enorm wichtig halte. Doch wir müssen Mädchen nicht nur für Technik begeistern, vor allem müssen wir es schaffen, dass diese Begeisterung langfristig anhält. Ein Kindergartenmädchen lässt sich schnell von Technik faszinieren. Doch wie sieht es bei der Wahl des Lehrberufs oder Studiums aus? Interessiert sich das gleiche Mädchen dann immer noch für Technik? Genau hier liegt das Problem.
Wir müssen uns vor Augen halten, dass der Anteil an Frauen in qualifizierten technischen Berufen tatsächlich nur 25 Prozent beträgt.
Wenn wir also bei möglichst vielen Mädchen im Kindergartenalter Begeisterung für Technik wecken, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass ein gewisser Anteil davon das Interesse behält?
Therese Niss: Ich denke generell, dass das Interesse und auch das Desinteresse an Technik schon sehr früh geprägt wird, indem ich Burschen das Lego und Mädchen die Puppe in die Hand drücke. Ich „prime“ die Kinder sozusagen schon so früh, dass man meiner Meinung nach gar nicht mehr objektiv sagen kann, dass Mädchen von Natur aus unterschiedliche Interessen wie Jungs haben. Sie haben schlichtweg andere Ausgangsvoraussetzungen. Ich bin aber auch davon überzeugt, dass etwa die räumliche Vorstellung oder Feinmotorik bei Jungs, die immer schon mit Lego spielen, einfach anders und oft besser ausgeprägt ist. Und ja, deswegen glaube ich, dass diese Thematik bereits in jungen Jahren relevant ist. Es sollte selbstverständlich sein, dass sich auch Mädchen im Kindergarten in die Bauecke setzen. Ich habe gehört, dass Mädchen sogar viel aufgeschlossener und unkomplizierter an diese Spielangebote heragehen. Das Problem ist dann meistens der Schuleintritt.
Wo liegt denn beim Schuleintritt das Problem?
Therese Niss: Ich denke, dass hier vor allem die unbewusste Rollenverteilung Einfluss nimmt. Mädchen sieht man automatisch in der Sprachecke und Burschen eben in der Mathematikecke. Das wiederum hat zur Folge, dass Burschen in diesen Bereichen schon früh indirekt stärker gefördert werden als Mädchen. Das macht etwas mit dem Selbstbewusstsein der jungen Mädchen und infolge auch etwas mit dem Interesse an dem Fach. Ich glaube, hier spielt vor allem die Sensibilisierung der Pädagogen und Pädagoginnen – aber auch der Eltern – eine wesentliche Rolle.
Nun kann man Eltern aber freilich nicht vorschreiben, wie sie ihre Kinder zu erziehen haben, oder?
Therese Niss: Nein, auf keinen Fall. Bei Pädagogen und Pädagoginnen jedoch können wir gezielt bei der Aus- und Fortbildung ansetzen und etwas verändern. Im Bereich der Eltern ist es naturgemäß schwieriger, denn hier geht es schließlich um ein ganzes Gesellschaftsbild, das wir prägen müssen. Aber je mehr über das Thema „Frauen gehören in die Technik“ gesprochen wird, desto normaler wird es hoffentlich. Gerade deshalb müssen wir dieses Thema verstärkt und gut strukturiert in die Bevölkerung und in die Masse der Menschen bringen. Ansonsten werden wir diese unbewussten Bilder und Konzeptionen nicht aufweichen können. Es ist sicher eine Mammutaufgabe, keine Frage, aber wir müssen diese Stereotypen kontinuierlich aufbrechen. Das ist alternativlos.
Es ist sicher eine Mammutaufgabe, keine Frage, aber wir müssen diese Stereotypen kontinuierlich aufbrechen.
Diese Stereotypen scheinen aber tatsächlich sehr westlicher Natur zu sein. Beispiel mit Beweiskraft: In einigen Ländern, wie etwa Saudi-Arabien ist etwa der Frauenanteil in Tech-Berufen gleich hoch oder teilweise sogar höher als der von Männern. Woran liegt das?
Therese Niss: Männer gehen dort zum Beispiel viel öfter in die Verwaltung, da dies dort einfach der angesehenere Beruf ist. Dennoch sind solch internationale Vergleiche auch für uns bei der MINTality-Stiftung sehr interessant. Was können wir von diesen Kulturen lernen? Welcher Maßnahmen bedarf es, damit auch wir etwas ändern können? Es ist schon wesentlich, dass wir hier auf Empirie aufbauen können.
Kommen wir zurück ins Hier und Jetzt. Was ist aus Ihrer Sicht der größte Hebel, den Sie als MINTality-Stiftung nutzen können, um etwas zu bewegen?
Therese Niss: Ein großer Hebel ist einerseits sicherlich die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft. Hier können wir genau erarbeiten, welche Berufsbilder jetzt und auch in Zukunft gebraucht werden. Zusätzlich teilen Unternehmen ihre Erfahrungen mit uns, was uns bei unserer Arbeit natürlich weiterhilft. Andererseits möchten wir aber auch im Bereich der Lehrerfortbildung, also bei praktischen Anwendungen, ansetzen. Besonders viel Potenzial sehe ich jedoch in dem Prozess, den wir entwickeln wollen.
Dieser wäre?
Therese Niss: Wir wollen einen Prozess entwickeln, der Mädchen in der Technik langfristig begleitet. Wenn sich ein Mädchen einmal für Technik interessiert, dann wollen wir es nicht mehr so einfach gehen lassen. Warum? Junge Mädchen lassen sich, wie wir bereits besprochen haben, ziemlich schnell für Technik begeistern, irgendwann kommen sie damit aber einfach nicht mehr in Kontakt und das Interesse reißt ab. Dann verlieren wir sie.
Wie soll dieser Prozess denn genau aussehen?
Therese Niss: Wir werden einen Prozess schaffen, der analog und vielleicht auch digital ablaufen wird. Hier könnten wir die Initiativen und Projekte der MINTality-Stiftung hineinspielen und Mädchen so quasi immer wieder mit Technik konfrontieren. Wir wollen ihnen dabei zeigen, wie viele unterschiedliche Berufe sie ausüben können und wie so ein Technikstudium auf Universitäten auch wirklich abläuft. Denn sind wir uns ehrlich: Eigentlich weiß im ersten Moment kein Mädel, was Elektrotechnik genau ist. Es klingt kompliziert und schwierig. Wir müssen hier einen Prozess erarbeiten, der den Mädchen die Technik und Naturwissenschaften immer wieder schmackhaft macht. Erst dann haben wir auch die Hoffnung, dass die Erfolgsquote immer höher wird.
In welchem Zeithorizont lassen sich Fortschritte evaluieren? Ist hier etwa von einem ganzen Schulausbildungsprozess die Rede?
Therese Niss: Das wird gewiss einige Jahre dauern. Schließlich muss das Interesse mittel- bis langfristig aufgebaut werden. Bei den Sechsjährigen etwa können wir bereits beobachten, wie es nach der Volksschule für sie weitergeht und ob das Interesse überhaupt noch da ist. Wollen sie in ein Realgymnasium oder in eine MINT-Mittelschule wechseln, die es ja ab jetzt geben soll? Weiter geht es dann zum Beispiel mit den Gymnasiasten oder jenen Kindern aus der Mittelschule. Sind sie bereit für eine technische Lehre oder für eine HTL?
Eine etwas kuriosere Überlegung: Denken Sie, dass diese coronabedingte verstärkte Auseinandersetzung der Kinder im Homeschooling mit dem Thema Technik positive Auswirkungen auf das Interesse der Mädchen haben kann?
Therese Niss: Ja,das ist tatsächlich eine Hoffnung, die wir haben. Ab Herbst wird in den Sekundärstufen zudem das Fach „Digitale Grundbildung“ eingeführt. Auch das wird das Interesse der Mädchen hoffentlich noch weiter stärken. Neben den Bereichen Medien, Pädagogik und Fake-News sollen dann vor allem aber auch Themen wie Codieren oder Algorithmen näher beleuchtet werden. Und wenn sie erst einmal sehen, dass es sich hier um keine Rocket-Science handelt, dann können Hemmfaktoren wie mangelndes Selbstbewusstsein auch abgebaut werden. Dieses führt nämlich sehr oft dazu, dass Mädchen sich nicht trauen, sich in einen Wettbewerb zu stellen. Dieses mangelnde Selbstbewusstsein führt weitergehend auch dazu, dass Frauen sehr oft überqualifiziert für einen Job sind. Männer bewerben sich einfach für einen Job, egal, wenn sie nicht alle zehn gewünschten Kriterien erfüllen. Frauen wollen zwölf von zehn Kriterien erfüllen. Das ist das Problem.
Wir müssen hier einen Prozess erarbeiten, der den Mädchen die Technik und Naturwissenschaften immer wieder schmackhaft macht.
Inwiefern kann die männliche Seite etwas dazu beitragen, dass sich mehr Frauen in die Technik trauen?
Therese Niss: Generell muss das Thema in der Gesellschaft stark verankert und Stereotypen aufgebrochen werden. Sprich: Eine Frau in der Technik ist bitte kein Alien! Männer müssen Frauen ermutigen, in diesem Bereich tätig zu sein. Ein Chef etwa sollte seinen Mitarbeiterinnen Aufgaben zutrauen und ihnen vertrauen. Ich bin zudem auch davon überzeugt, dass gemischte Netzwerke in Unternehmen viele Vorteile mit sich bringen. Das gegenseitige Bestärken und Ermutigen führt dazu, dass Frauen endlich erkennen, dass auch sie sich bewähren und beweisen können. Eine der wesentlichen Thematiken ist also die Sensibilisierung von unbewussten, in den Köpfen vorhandenen Stereotypen. Zu wissen, welchen Schaden man anrichten kann, wenn man Frauen von ihrem Potenzial abhält oder sie in ihrem Können nicht bestärkt. Ähnlich wie bei männlichen Volksschullehrern oder Frisören. Das ist für viele einfach ungewöhnlich, dennoch völlig normal. Eines muss aber wirklich aufgearbeitet werden, und zwar das Thema Gehalt.
Die Gender-Pay-Gap. Ein immer wieder besprochenes, aber noch lange nicht gelöstes Kapitel. Wie ist der Status quo?
Therese Niss: Bei dem Thema Gehalt spielen vorrangig die Kinderbetreuung und der Haushalt eine große Rolle. Hier liegt die Verantwortung nach wie vor sehr oft bei der Frau. Wir müssen diese Gender Pay Gap, oder in dem Fall auch Motherhood Pay Gap genannt, die hier noch immer gegeben ist, schließen. Frauen können während ihrer Karenzzeit keine Gehaltssprünge machen, das wiederum verstärkt diese Gap. Wird die Karenz allerdings teilweise geteilt und die Frau kehrt früher in ihre Arbeit zurück, so könnte ihr das auch beim Thema Gehalt und Bezahlung enorm weiterhelfen. Man muss aber auch berücksichtigen, dass das Gehalt heutzutage noch sehr oft eine Verhandlungssache ist. Und hier sind Männer eben noch immer selbstbewusster als Frauen, die sich einfach viel öfter zurückhalten.
Kann man sich diese Vereinbarkeit also wie einen Brocken Ballast vorstellen, der bei Mädchen bei der Berufswahl und Familiengründung immer mitschwingt?
Therese Niss: Na ja, ich glaube, bei der Berufswahl hat die Überlegung, ob ich später damit auch Karriere und Familie unter einen Hut bringen kann, noch nicht sehr viel Einfluss. Hier geht es rein um das Interesse. Aber natürlich stellt man sich dann schon irgendwann die Frage, wie man die Karriereleiter hinaufklettern kann. Das ist nun aber völlig unabhängig davon, ob man Technikerin oder Finanzberaterin ist. Wichtig ist, dass wir Frauen nach der Karenz wieder rasch ins Unternehmen zurückbekommen. Hier müssen für Familien genügend Kinderbetreuungseinrichtungen vorhanden sein. Viele Unternehmen bieten bereits intern Betreuungsangebote an. Es muss zudem auch als normal angesehen werden, dass vielleicht der Mann für eine gewisse Zeit lang zu Hause bleibt. Es ist einfach diese Vereinbarkeit in den Familien selbst, um die es geht.
Und hier merken wir, dass dieses Problem am Ende des Tages nicht eines ist, das Frauen in der Technik betrifft, sondern systemübergreifender ist, als man auf den ersten Blick vielleicht glauben mag.
Therese Niss: Diese ganze Thematik ist sehr komplex. Mädchen im MINT-Bereich sind dabei allerdings nur eine Schnittmenge. Schließlich betrifft es nicht nur Frauen in der Technik. Es stehen Frauen in vielen unterschiedlichen Berufsfeldern vor denselben Problemen, wie der fehlenden Vereinbarkeit oder einem geringen Selbstbewusstsein. Es ist einfach ein sehr wichtiges Thema, das man schon früh angehen muss und das am Ende des Tages auch jeden irgendwo betrifft. Auch jeden Mann.