Neuroth-Im-Ohr-Hoergerat

Wie bitte? Das Hörgerät als „Telefon“

Das steirische Hörakustikunternehmen Neuroth will auf seinem europaweiten Expansionsweg mit einer eigenen Berufsausbildung dem Fachkräftemangel entgegenwirken.

Ohren kann man nicht „ausschalten“. Anders als Augen, die man verschließen, oder der Geruchssinn, den man durch Atemtechnik überlisten kann, lässt sich das Hören nie wegblenden. Es ist rund um die Uhr im Einsatz. Umso einschneidender ist es, wenn der Hörsinn nachlässt. An diesem Punkt beginnt die Arbeit von HörakustikerInnen. Theoretisch. Praktisch ist es meist später.

„Oft ist die Hemmschwelle groß, leider dauert es im Schnitt sieben bis zehn Jahre, bis sich Betroffene helfen lassen“, weiß Lukas Schinko aus beruflicher Erfahrung. Schinko ist selbst Hörakustikmeister und seit 2011 Geschäftsführer von Neuroth. Das von ihm in vierter Generation geführte Familienunternehmen hat sich auf Hörakustik spezialisiert und zählt diesbezüglich zu den führenden Anbietern in Europa.

Neuroth-Hörgerät wog 20 Kilo

Die Zeichen stehen weiterhin auf Expansion. Wachstumsperspektiven gibt es vor allem außerhalb Österreichs. Gerade in Südosteuropa expandiert man derzeit stark: In Serbien wurden binnen eineinhalb Jahren neun Standorte eröffnet, kürzlich folgte das erste Geschäft in Bosnien-Herzegowina (Banja Luka). „Wir wollen hier ein ähnliches Tempo gehen“, kündigt Vorstandsvorsitzender Lukas Schinko vier bis sechs Filialen, darunter eine in Sarajewo, an.

Neuroth-Produktion-Digitale-Modellierung
Maßarbeit: Die Hörgeräte werden mithilfe einer digitalen Modellierung auf die persönliche Ohrform individuell angepasst.Foto: Neuroth/Ilgner

Die Neuroth-Geschichte beginnt 1907, als Paula Neuroth, selbst von einer Hörminderung betroffen, das „1. Spezialhaus für Schwerhörigenapparate“ gründet. 1980 übersiedelte das Unternehmen in die Steiermark. Wogen die ersten Tischapparate noch bis zu zwanzig Kilo, fertigt man heute individuell angepasste „Leichtgewichte“ im 3D-Druckverfahren, die noch dazu durch die Digitalisierung zu kleinen Wunderwerken der Technik geworden sind.

Unsichtbare Hörgeräte

Mit der einstigen grobschlächtigen „Banane hinter dem Ohr“ haben die aktuellen Modelle längst nichts mehr gemein. „Sie haben wie die Brille das Potenzial zum Modeaccessoire“, ist Schinko überzeugt. So können die „Hinter-dem-Ohr-Hörgeräte“ an die Haarfarbe angepasst werden. Sie sind kleiner und leistungsstärker geworden und nur mehr durch einen dünnen, fast unsichtbaren Schlauch mit dem Lautsprecher im Ohr verbunden. 

Bei In-Ohr-Hörgeräten findet die gesamte Elektronik dagegen im Ohrpassstück Platz. Sie kommen in der Regel bei leichtem oder mittlerem Hörverlust zum Einsatz. Die kleinsten Modelle sind so klein, dass sie komplett im Hörgang verschwinden – also faktisch „unsichtbar“ sind.

Hörgerät als Kopfhörer

Moderne Geräte stellen sich jedenfalls binnen Millisekunden automatisch auf ihre jeweilige Hörumgebung ein. Und über eine Bluetooth-Verbindung kann man das Hörgerät mit dem Smartphone oder Fernseher koppeln und dadurch telefonieren, seine Playlist abspielen oder einen Film mit exklusiver Soundqualität genießen, während die Umgebung nur einen Stummfilm sieht.

Neuroth-Produktion-Handarbeit
Die Feinanpassung der Hörgeräte erfolgt in Handarbeit.Foto: Neuroth/Ilgner

Entwickelt und gebaut werden diese Geräte von Neuroth in einem Supply Center in Lebring südlich von Graz,wo man Labor, Logistik und Produktion zusammengefasst hat. 200 MitarbeiterInnen sind hier beschäftigt, etwa 200.000 Stück sogenannte Otoplastiken werden jährlich hergestellt. Die technischen Feinheiten haben das Berufsbild des bzw. der Hörakustikers bzw. Hörakustikerin massiv verändert. Der hauseigenen Akademie kommt daher eine immer wichtigere Rolle zu.

Eigene Hörberater-Ausbildung

Um dem spürbaren Fachkräftemangel entgegenzuwirken, bietet Neuroth zudem eine duale Ausbildung zur Hörberaterin beziehungsweise zum Hörberater an. Theorie wird dabei mit praktischer Mitarbeit in einem Fachinstitut gekoppelt. Ausdrücklich zielt man damit auch auf QuereinsteigerInnen ab.

Die Ausbildung ist dreigeteilt. Neben dem „Training on the Job“ im Fachgeschäft werden im firmeneigenen Ausbildungszentrum in Gleisdorf theoretische Grundlagen und praktische Aufgaben im Bereich Audiometrie (Prüfung der Hörleistung) und Hörgerätetechnik geboten. Dazu gibt es in der „Audiomed Akademie“ vier je einwöchige Unterrichtsblöcke in den Bereichen Anatomie, Audiologie, Audiometrie, Otoplastik sowie Kundenbetreuung und Reparaturen. Der Unterricht wird von erfahrenen HörakustikmeisterInnen durchgeführt. Nach rund fünf Monaten schließt man die Ausbildung mit einem international anerkannten Zertifikat ab.

20 Prozent haben Hörminderung

Es ist ein zukunftssicheres berufliches Terrain, ist man bei Neuroth überzeugt. Denn der Bedarf an Hörgeräten steige kontinuierlich und sei bei Weitem nicht gedeckt. Zwanzig Prozent der ÖsterreicherInnen haben laut Schinko eine Hörminderung – bisher sucht jedoch erst jede/r Vierte derzeit aktiv eine Lösung. Laut einer heuer im Frühjahr präsentierten Umfrage geben 44 Prozent der 3.900 Befragten an, in bestimmten Situationen schon eine Einschränkung des eigenen Hörvermögens bemerkt zu haben. 

„Viele fürchten aber noch immer eine Stigmatisierung und Ausgrenzung“, bedauert Schinko. Ziel sei es daher zum einen, dass Menschen noch selbstbewusster und selbstverständlicher ein Hörgerät tragen, und zum anderen, dass sie nicht erst dann reagieren, „wenn der Leidensdruck so groß ist, dass bereits Lebensqualität und soziale Kontakte darunter leiden“.

GUT ZU WISSEN

  • An 260 Standorten in acht Ländern (Österreich, Deutschland, Schweiz, Liechtenstein, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina) beschäftigt die Neuroth-Gruppe aktuell rund 1.200 MitarbeiterInnen. Die Zentrale ist in Graz.
  • Zuletzt erwirtschaftete man einen gruppenweiten Umsatz von rund 140 Millionen Euro. 
  • Im Vergleich zum Jahr davor bedeutet das ein Plus von rund 17 Millionen Euro oder 14 Prozent. Die coronabedingte Delle konnte damit überwunden und der bisherige Rekordwert von 136 Millionen Euro aus der Zeit vor der Pandemie verbessert werden.
  • Neben Hörgeräten bietet man auch Gehörschutz an, zum Beispiel für IndustriearbeiterInnen, MotorradfahrerInnen oder JägerInnen.
Credits Artikelbild: Neuroth

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